Es gibt Dinge, die lassen sich einfach nicht ins Deutsche übertragen. „An acquired taste“ zum Beispiel: „erworbener“ oder „anerzogener“ Geschmack klingt irgendwie seltsam. Was damit gemeint ist, versteht man jedoch sofort, wenn man den ersten Bissen Marmite auf der Zunge hat. Das Zeug wird nur von jenen Menschen geliebt, die es sich bereits seit der Kindheit aufs Brot schmieren.
Allen anderen geht es wie mir.
Mein erstes Mal erlebte ich während meiner ersten Neuseelandreise – und da war ich schon eine ganze Weile im Erwachsenenalter angekommen. Ich frühstückte mit ein paar Leuten im Hostel, darunter auch ein, zwei Kiwis und auf dem Tisch stand ein Glas Marmite. Mit seiner auffälligen schwarz-roten Farbe ist es kaum zu übersehen, gibt sich im netten Retrolook jedoch gleichzeitig täuschend harmlos. Irgendjemand erwähnte, dass Marmite in Neuseeland DER Frühstücksbrotaufstrich schlechthin sei.
Ich war neugierig und hungrig. Und die schwarzbraune Farbe weckte auch bei mir Kindheitserinnerungen – an Nutella. Dass die Farbnuance hier eher in Richtung Teer als Haselnuss ging, machte mich nicht stutzig. Ich schiebe das mal auf meinen leeren Magen. Großzügig schmierte ich mir also die zähe Paste auf ein frisch geröstetes Toastbrot und biss hinein.
Lautes Gelächer riss mich aus dem Schock, der sich wellenartig auf meiner Zunge ausbreitete. Auch die millionste Wiederholung des Slapstickformats „Ahnungsloser Tourist probiert Marmite“ ist ein Brüllergarant. Statt des erwarteten süßen Geschmacks hatte ich etwas intensiv Würziges, Salziges im Mund, das eine gewisse Ähnlichkeit mit Maggi Würze oder Brühwürfeln hatte. Mein Gesichtsausdruck muss ein Bild für die Götter gewesen sein.
Meine anschließende Marmite-Abstinenz dauerte sieben Jahre.
In der Zwischenzeit musste ich mich jedoch aus beruflichen Gründen mit dem Brotaufstrich befassen – als nämlich die schweren Erdbeben in Christchurch die Marmite-Produktion lahmgelegten. Als bekannt wurde, dass die einzige Marmite-Fabrik des Landes auf unbestimmte Zeit geschlossen werden musste, räumten Hamsterkäufer die Supermarktregale landauf, landab leer. Die Presse sprach gar von „Marmageddon“ und auf TradeMe verkauften Leute ihre gebunkerten Marmite-Gläschen für ein Vermögen.
Durch meine Recherche erfuhr ich damals alles über Marmite, was ich noch nicht wusste und vielleicht auch gar nicht so genau hätte wissen wollen: Es wird aus Hefeextrakt hergestellt, genauer gesagt aus einem Abfallprodukt, das beim Bierbrauen entsteht. Karamel verpasst ihm seine satte Farbe, und eine Mischung aus 27 (oder waren es 56?) natürlich streng geheim gehaltenen Gewürzen seinen unvergleichlichen Geschmack. Erstmals zusammengerührt wurde es schon Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts in England. Damals galt es als Gesundheitsprodukt und wurde in speziellen Sanatorien wie etwa dem bekannten Battle Creek in Michigan, USA, den reichen und berühmten Gästen serviert.
Seitdem wurde das Produkt diversifiziert, ein bisschen Konkurrenz belebt schließlich das Geschäft. In England wie auch Neuseeland heißt der Brotaufstrich Marmite und in Australien Vegemite (wie spätestens seit diesem Hit jeder weiß), allerdings liegen zwischen allen drei Produkten (selbst den gleichnamigen) geschmackliche Welten. Behaupten die Fans. Das Marmite in Großbritannien sei bitterer und intensiver im Geschmack als das neuseeländische und das wiederum süßer als das australische Vegemite.
Kurz nach Weihnachten 2012 lief die Produktion in Christchurch dann wieder an, hallelujah!, und die ersten frisch befüllten Gläschen wurden vor Ort fünf überglücklichen Marmite-Junkies überreicht: Sie hatten sich in einem auf facebook ausgetragenen Wettbewerb als die größten Fans im ganzen Land qualifiziert (eine von ihnen hatte sich dafür Miniatur-Marmite-Gläschen auf die Fingernägel gemalt).
Ein paar Monate später durfte ich ebenfalls die Fabrik besuchen und traf dort Geschäftsführer Geoff Davis, seine Assistentin Lorraine Gallacher und Mitarbeiterin Dianne Morris, die ein ganzes Buch über die Geschichte des Marmite geschrieben hat. Von ihr erfuhr ich auch die ungeheuerliche Wahrheit, nämlich dass der Marktanteil von neuseeländischem Marmite und australischem Vegemite in Neuseeland etwa 50/50 beträgt, während nur etwa 1% der Ozzies zu Marmite greifen.
Aber auch die Briten haben ein gespaltenes Verhältnis zu ihrem öligschwarzen Brotaufstrich: Fans schwärmen von der zart-cremigen Konsistenz, dem hohen Vitamin-B-Gehalt und seiner Wirksamkeit gegen Kater (ein in England nicht zu unterschätzender Pluspunkt), während die Hasser-Fraktion den Brotaufstrich „tar in the jar“ (Teer im Glas) nennt. Der Hersteller nimmt es mit typisch britischen Humor: In einem Werbespot etwa sieht man eine Mutter, die beim Stillen genüsslich in ein Marmite-Sandwich beißt, woraufhin das Baby … aber seht selbst.
Dianne allerdings ist eine treue Marmite-Jüngerin: „Ich erinnere mich noch genau an meinen ersten Bissen, nachdem die Produktion wieder angelaufen war“, erzählte sie mir (denn auch die Mitarbeiter hatten nach dem Erdbeben keine Chance, sich einen Vorrat zu bunkern). „Es war SO gut!“ Am liebsten streicht sie sich die Frühstückswürze zusammen mit Erdnussbutter auf Toast, verriet sie mir noch, während Kollege Geoff sie lieber mit Kopfsalat kombiniert.
An solche geschmacklichen Experimente wagten wir noch nicht einmal zu denken. Aber an Marmite führte irgendwann kein Weg mehr vorbei – schließlich haben die Jäger des verlorenen Schmatzes sieben Monate lang typisch neuseeländische Spezialitäten gesammelt und probiert. Als wir das x-te Mal im Supermarkt am Regal mit den schwarz-roten Plastikgläschen vorbeiliefen, landete schließlich auch eines in unserem Einkaufswagen.
Diesmal waren wir vorgewarnt (auch der Co-Jäger, obwohl ich zu gerne sein überraschtes Gesicht gesehen hätte) und tasteten uns mit sparsam bestrichenen Probierhappen an den Geschmack heran. Zuerst fand ich ihn interessant, und dann, als würzige Basis in Kombination mit anderem Brotbelag, sogar richtig lecker.
Meine Empfehlung: dünn auf Sauerteigbrot streichen und mit Avocado-Scheiben belegen (siehe Foto). Oder als sogenannten „marmite soldier“ snacken: Dafür buttert man krosse Toastbrotscheiben und bestreicht sie mit Marmite, schneidet sie dann in Streifen und tunkt sie in ein weich gekochtes Frühstücksei.
Mmmmmmh! Findet auch die kleine Co-Jägerin. Kein Wunder: Sie hat sich ja bereits als Baby an diesen „aquired taste“ herangefuttert.
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