Als wir am Ufer des riesigen Issyk Kul Sees an der Landstraße stehen und auf den Bus warten, merken wir, dass es vielleicht doch nicht ganz so einfach wird, wie wir uns das vorgestellt haben. Vier Wochen lang wollen wir Kirgistan bereisen – ein kleines zentralasiatisches Land, das zum überwiegenden Teil aus Bergen besteht, bis zu siebentausend Meter hoch. Wir wollen individuell reisen, kreuz und quer durchs Land, uns von Empfehlungen anderer Backpacker und unserem eigenen Tempo leiten lassen. So wie wir das immer machen.
Nun stehen wir an der Landstraße, eine vierstündige Zugfahrt außerhalb der Hauptstadt Bischkek, die wir auf der einzigen Bahnlinie des Landes in einem herrlich nostalgischen Abteil zurückgelegt haben. Wir warten auf einen Bus, der uns bis zu jenem kleinen Ort bringen soll, den wir uns als heutigen Stopp ausgeguckt haben. Dort gibt es ein (inzwischen in die Jahre gekommenes) Sanatorium, in dem sich einst die Reichen und Berühmten erholten. Zum Beispiel Yuri Gagarin, nachdem er als erster Mensch ins All geflogen war. Aber wir schaffen es nicht, einen Bus anzuhalten.
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Dass in der ehemaligen Sowjetrepublik Russisch und das entfernt mit dem Türkischen verwandte Kirgisisch gesprochen wird, wussten wir vorher. Und dass der Tourismus noch ein zartes Pflänzchen ist, hat uns erst recht gereit. Wir wollten den nomadischen Lebensstil kennenlernen, freuten uns auf Übernachtungen in Jurten und darauf, frei laufende Pferde- und Schafherden in den Bergen zu erleben.
Jetzt stehen wir am Straßenrand und die Marschrutkas – so werden die kleinen Überlandbusse in Kirgistan genannt – brausen so schnell vorbei, dass wir das Schild hinter der Windschutzscheibe unmöglich entziffern können, geschweige denn schnell genug das Zeichen zum Anhalten geben. Das Fahrtziel wird hier nämlich in kyrillischer Schrift angegeben, und als ob das für uns, die wir uns im Russischen wie Erstklässler von Buchstabe zu Buchstabe hangeln, nicht schon schwer genug wäre, sind manche Schilder auch noch von Hand geschrieben.
Nachdem das ein paar Mal so gegangen ist, winken wir der nächsten Marschrutka einfach auf gut Glück zu. Die bremst tatsächlich rasant ab, wir hechten zur Beifahrertüre und fragen „Tamga Tasch?“ Es scheint, als würde uns der Fahrer verstehen, zumindest bittet er uns mit einem freundlichen Kopfnicken hinein. Der Bus ist bereits gut gefüllt, aber die anderen Fahrgäste packen sofort mit an, um unsere Rucksäcke irgendwo im Innenraum zu verstauen. Wir sinken auf zwei Hocker, die aus irgendeinem Winkel hervorgezogen und für uns in den Mittelgang gestellt werden, und ernten auf unser vorsichtig ausgesprochenes „Rachmat“ (kirgisisch für „danke“) ringsum Lächeln.
Überhaupt sind die Kirgisen so hilfsbereit und herzlich, dass wir bald nicht mehr groß über unsere fehlenden Sprachkenntnisse nachdenken. Als wir auf dieser ersten Überlandfahrt unseren Zielort erreichen, geben unsere Mitfahrer dem Fahrer das Signal zum Anhalten. Wir selbst haben im Vorbeifahren natürlich das Ortsschild wieder nicht entziffern können. Ein andermal lässt uns der Busfahrer netterweise an einer Kreuzung mitten im Nirgendwo raus, an der wir einen direkten Anschlussbus nehmen können. Von alleine wären wir da nie drauf gekommen.
Das kirgisische Transportsystem ist nur auf den ersten Blick unübersichtlich. Überlandbusse und Sammeltaxis fahren an den Startpunkten nicht zu bestimmten Uhrzeiten ab, sondern wenn sich genug Passagiere gefunden haben. Man muss unter Umständen also ein wenig Langmut mitbringen. Alternativ kann man sich einfach an die Straße stellen und mit ausgestrecktem Arm und flacher Hand Richtung Boden wedeln – die kirgisische Variante des Tramper-Daumens. Es wird garantiert sehr bald ein Fahrzeug anhalten, wenn auch nicht unbedingt eine Marschrutka. Wir lernen schnell, dass sich in Kirgistan jedes Fahrzeug spontan in ein Taxi verwandeln kann. Für die Mitfahrgelegenheit zahlt man einen Obulus, eine Art Beteiligung an den Benzinkosten, die man beim Einsteigen vereinbart.
Beim ersten Mal war es eher Zufall, dass wir ein Auto heran winkten. Aber weil es so einfach und dazu unterhaltsam ist, trampen wir bald nur noch. Wie in den Bussen gilt auch hier: Es ist immer mehr Platz, als wir denken. Einmal nimmt uns eine Großfamilie mit; wir sitzen zu viert auf der Rückbank und der Kopf des sehr müden Großvaters sinkt immer wieder auf meine Schulter. Ein andermal hält ein LKW an: Der Fahrer hat einfach Lust auf Gesellschaft und lehnt unser Geld ab. Nur unseren Proviant dürfen wir mit ihm teilen, während wir in der Fahrerkabine, hoch über der Straße, einen Pass erklimmen.
Zwar lernen wir im Laufe der Reise ein paar Brocken Russisch. Durchs Land navigieren wir jedoch mit einem simplen System, das die Leute immer wieder staunen und schmunzeln lässt: Vor jeder Reiseetappe schreiben wir die Namen der größeren Ortschaften, die wir entlang unserer geplanten Route passieren, chronologisch auf einen Zettel und zwar in kyrillischen Buchstaben, die wir von einer sehr guten, russischen Karte abmalen, welche wir noch in Bischkek gekauft haben. Es funktioniert einwandfrei.
Immer wieder überraschen uns aber auch Kirgisen mit ihren zum Teil fließenden Englisch- oder Deutschkenntnissen, zum Beispiel unsere Gastgeberin Tamara, die früher Englischlehrerin war, oder Beka, die Ingenieurin werden und in Deutschland studieren möchte. Erstaunlich viele ältere Kirgisen waren auch während ihres Militärdienstes, noch zu Sowjetzeiten, in der DDR stationiert und erinnern sich an ein paar Brocken Deutsch.
Drei Vokabeln jedoch scheint wirklich jeder kirgisische Mann, gleich welchen Alters, zu beherrschen: „Märsädäs! Audi! Wollgswagän!“, ruft es uns mit leuchtenden Augen entgegen, sobald wir uns als Deutsche zu erkennen geben. Oft unterstrichen durch zwei empor gereckte Daumen. Und tatsächlich dürfte jeder deutsche Ingenieur und Fahrzeugbauer, der einmal das Land der tausend Gebirgspässe besucht hat, sehr sehr stolz sein. Dort fahren Autos und Busse herum, die man hierzulande kaum noch auf den Straßen sieht, besonders beliebt sind Audi 100er aus den 80er Jahren. Zwar würden die meisten davon nicht mehr durch den deutschen TÜV kommen. Aber hier leisten sie unter extremsten Bedingungen zuverlässige Dienste und werden von ihren Besitzern liebevoll gehegt und gepflegt.
Am Ende unserer Reise, die uns per Bus und Anhalter in einsame Täler und kleine Ortschaften, über spektakuläre Pässe und immer wieder zu unglaublich freundlichen Gastgebern geführt hat, sind wir um eine wichtige Erkenntnis reicher: Ob ein Fahrzeug „voll“ ist, wird in Kirgistan ein wenig anders definiert als bei uns. Molekülen gleich verteilen sich Insassen und Gepäck unter optimaler Ausnutzung des vorhandenen Platzes im Innenraum. Nie wird gemurrt, Pragamtismus, Freundlichkeit und Rücksichtnahme scheinen wichtige Tugenden. Nur ein einziges Mal erleben wir, dass jemand am Straßenrand stehen bleiben muss. Den Rekord unserer Reise hält ein Mercedes Kleinbus, in dem wir 26 Fahrgäste zählten.
Disclaimer: Diese Geschichte ereignete sich zu einer Zeit, als es die kleine Co-Jägerin noch nicht gab.
* Von Fettarschschafen, Wodka und anderen kirgisischen Spezialitäten haben wir hier berichtet.
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