Mit flinken Fingern legte der alte, blinde Mann den meterlangen zarten Stoff in Falten, wickelte ihn um meinen Körper, steckte ihn mit einer Brosche fest und reichte mir das herunterhängende Ende, damit ich mein Gesicht damit von der Nase abwärts bedecken konnte. Meinen Hinterkopf samt Haaren hatte er bereits mitverhüllt. Nicht nur ich war fasziniert von meiner Verwandlung in eine Berberfrau im Festtagsgewand: Neben mir versuchte meine kleine Tochter, sich in eine Tischdecke einzuwickeln, die sie in dem mit Teppichen und Kissen ausgelegten Raum gefunden hatte. Plötzlich musste ich lächeln. Die Sache begann Spaß zu machen.
Eigentlich hatten wir im Maison Traditionelle nämlich nur einen Tee trinken wollen. Es war später Nachmittag, wir waren sehr viel ausgiebiger als gedacht durch das hübsche kleine Dörfchen Oumsnat spaziert, das im Vallee des Ammeln am Fuß eines beeindruckenden Felsmassivs liegt. Oder vielmehr: gewandert, denn die Wege waren unbefestigt, steinig und steil. Jedenfalls hatten wir dummerweise unsere Taschen, Wasserflaschen und Snacks im Auto gelassen und waren ziemlich durstig. Wir brauchten dringend eine Pause, wollten einfach kurz sitzen und den Blick ins Tal von dem oben am Berg gelegenen Haus genießen.
Natürlich bekämen wir einen Tee, sagte der Hausherr, und lud uns in besagten, gemütlich ausgepolsterten Raum ein. Doch kaum hatten wir Platz genommen, begann er, in holprigem Deutsch auf uns einzureden. Der Co-Jäger und ich schauten uns überrascht an. Was kam nun? Eine kurze Begrüßungsansprache? Als wir jedoch realisierten, dass wir mitten in einem Vortrag steckten, den der alte Herr vermutlich schon hunderten Touristen vor uns gehalten hatte, war es zu spät, um sich höflich aus dem Staub zu machen.
[nggallery id=23]
Durstige und hungrige Menschen sind keine guten Zuhörer, ich kann mich deshalb leider nur vage erinnern, dass er uns etwas über die Herkunft des in Marokko verwendeten Tees erzählte und über historische Teepötte, Schuhe, Kleider und Musikinstrumente referierte. Unsere Kleine hatte deutlich mehr Spaß, sie hüpfte über die Kissen, verkleidete sich und tanzte wie ein Drehkreisel durchs Zimmer, als der alte Mann auch noch auf einem Bass-ähnlichen Musikinstrument für uns spielte. Zu diesem Zeitpunkt, unsere Zungen klebten bereits am Gaumen und meine Lippen waren, ungelogen, spröde geworden, stieß eine weitere Familie mit vier Kindern dazu, die mit einem einheimischen Guide unterwegs war. Der brühte dann, endlich, endlich!, einen Tee auf. Und schenkte ihn zu unserem Entsetzen in den kleinsten Gläsern, die uns auf unserer gesamten Reise begegneten, aus. Für einen Nachschlag reichte das Kannenvolumen leider nicht mehr.
Trotzdem waren wir danach erfrischt genug, um uns von dem alten Mann auch noch durch das Museum im Untergeschoss des historischen, aus Stroh-Lehmziegeln erbauten Hauses führen zu lassen. Dort zeigte er uns eine steinerne Mühle, mit der traditionell Arganöl gepresst wird. Das kostbare Öl stammt von den Samen einer Frucht, die ausschließlich in Marokko wächst – auf Bäumen, die Ähnlichkeit mit Olivenbäumen haben, nur in stachelig, und die in den Bergregionen des Atlas und Antiatlas riesige Flächen bedecken. Die Ölgewinnung ist tief verwurzelt in der Kultur der Berber und wer, wie wir, im Land unterwegs ist, kommt an unzähligen kleinen Läden vorbei, in denen die Frauenkooperativen, die das Öl traditionell herstellen, es direkt verkaufen. Inzwischen gibt es auch industriell gewonnenes Arganöl, das natürlich günstiger ist, aber – wir haben es verkostet – auch weniger aromatisch schmeckt.
Arganöl ist nicht nur eine Delikatesse, es soll auch Haut und Haare schön machen. Das wusste ich bereits, aber nicht, dass die Öle unterschiedlich hergestellt werden: Das kosmetische Öl ist hell wie Rapsöl und wird aus den unbehandelten Samen gepresst. Für das Öl, das für den Verzehr gedacht ist, werden sie hingegen zuerst geröstet, was das nussige Aroma stärker herauskitzelt.Wenn man eine Argannuss übrigens frisch geknackt probiert, schmeckt sie ziemlich bitter.
Und was passiert mit den leer gepressten Resten? In der traditionellen Verarbeitung drückt man sie zu dunkelbraunen Brocken von der Größe und Form eines Eishockey-Pucks zusammen und verfüttert sie an die Kühe. Im Museum lagen einige solcher Brocken in einer Schale und neugierig griff ich zu. Schwer und kompakt lag er in meiner Hand und hinterließ einen Ölfilm auf der Haut. Und einen überaus verlockenden Duft. „Wir nennen es Kuh-Schokolade“, erklärte der alte Mann und kicherte. Nur der Gedanke daran, wie viele hundert oder tausend Touristenhände diesen Arganbrocken schon befingert und gedrückt haben müssen, hielt mich davon ab, einmal hinein zu beißen.
Schreibe einen Kommentar