Alle Fotos (c) Daniel Grünig
Es gibt Städte, die gelten als so aufregend und sexy, dass ihr Ruf ihnen vorauseilt. Die man sofort auf seine Wunschliste schreibt, kaum dass man das erste Mal von ihnen gehört hat. Deren Besuch Sehnsüchte stillt und alle daheim Gebliebenen mit Neid erfüllt. Magdeburg gehört nicht dazu. Noch nicht!
Denn ein umtriebiges Team aus kreativen Köpfen ist in diesem Jahr angetreten, die unterschätzte Landeshauptstadt Sachsen-Anhalts, die sich als europäische Kulturhauptstadt für das Jahr 2025 beworben hat, ins Scheinwerferlicht zu rücken. Mit ihrer Eventreihe Pop Up 2025 bringen sie bei 25 Überraschungsessen in 20 verschiedenen Locations Köche, Produzenten, Landwirte und Genusshandwerker aus der Region mit neugierigen Gästen (nicht nur) aus Magdeburg zusammen.
Vier Dinnerabende gab es bereits im Auftaktjahr 2019, die nicht nur damit überraschten, dass sie in einer bis zuletzt geheim gehaltenen Location stattfanden. Sondern vor allem damit, was für ein (kulinarisches) Potenzial in Magdeburg schlummert.
Fünf-Gänge-Menü im historischen Tram-Depot
Nach Magdeburg fährt man weniger als zwei Stunden von Berlin aus. Geradezu perfekt also für einen Tagesausflug oder einen Kurztrip übers Wochenende. Und trotzdem bin ich an diesem Samstag Ende November tatsächlich zum ersten Mal in der 230.000-Einwohner-Stadt.
Der Bus, der mich von Berlin nach Magdeburg bringt, hält direkt hinter dem Hauptbahnhof. Der Treffpunkt für das Pop Up Dinner befindet sich nur wenige Schritte entfernt, auf der anderen Seite des Bahnhofs. Das wurde mir wenige Tage vorher in einer Email mitgeteilt, die gerade so viel verriet, dass ich NOCH neugieriger auf das bevorstehende Dinner wurde: Der Treffpunkt ist nicht der Veranstaltungsort….der Abend beginnt mit einem Sektempfang…gegen 19 Uhr erreichen wir die Location…bringen Sie einen warmen Pullover mit.
Vielleicht ist es sogar von Vorteil, dass ich mich in Magdeburg nicht auskenne, denke ich. So kann ich die Raterei anderen überlassen und mich einfach überraschen lassen.
Statt Sekt gibt es dann Glühwein zur Begrüßung, der auch viel besser zum recht frischen Novemberabend passt, und dazu Christstollen. Noch mehr als der (schön saftige!) Weihnachtsgruß begeistert mich als großer Brot-Fan allerdings das, was später zum Menü gereicht wird: Marcus Ostendorf, der gerade in achter Generation die Magdeburger Bäckerei Möhring übernommen hat, entwickelt nämlich ungewöhnliche neue Sorten, von denen wir drei an diesem Abend kosten dürfen: ein herzhaftes Maronen-Haselnuss-Brot mit schön viel Biss, ein dunkles, herb-süßes Schoko-Aprikosen-Brot und ein Brot aus Champagnerroggen, welcher ursprünglich aus der französischen Champagne stammt, aber in der Region Magdeburg angebaut wurde.
Aber ich greife vor! Noch sammelt sich unser Grüppchen, werden alle Neuankömmlinge von Gastgeberin Tessa Bösche begrüßt und vom Bäckermeister persönlich bewirtet, bis sich plötzlich drei Herren in historisch anmutenden Uniformen, die ulkige Handtaschen umgehängt haben, zu uns gesellen.
Es geht los! Aber wohin bringen uns die Uniformierten?
Die drei stellen sich als Mitarbeiter der Magdeburger Verkehrsbetriebe vor, deren Herz in ihrer Freizeit den historischen Straßenbahnen gehört. Und in einer solchen – genauer gesagt: einer Tram Baujahr 1924 – bringen uns die fidelen Herren jetzt zu unserem Dinner.
Unterwegs unterhalten sie uns mit Anekdoten aus einem Jahrhundert Magdeburger Straßenbahngeschichte, die selbst mich zum Lachen bringen, obwohl ich, im Gegensatz zu vielen anderen Gästen, nichts davon aus eigener Anschauung kenne. Als die Bahn schwungvoll eine Kurve nimmt und dabei die Gleise zum Singen bringt, ruft eine ältere Dame strahlend in die Runde: „Hört ihr das?! So klang das früher immer!“
Eine gute halbe Stunde rollen wir durch Magdeburg. Passanten schauen uns nach und winken begeistert, als wären wir die Queen Mum. Natürlich meinen sie die Straßenbahn, nicht uns, aber schön ist es trotzdem.
Dann erreichen wir Sudenburg, wo sich das Straßenbahndepot Baujahr 1888 befindet, dessen Klinkerfassade an diesem Abend poppig angeleuchtet ist. Aha! Hier wird also nicht nur die alte Tram geparkt – wir haben unser Ziel erreicht!
Drinnen fällt mein Blick sofort auf die offene Küche, in der flinke Hände gerade Teller befüllen. Es duftet bereits verlockend und ich merke, dass ich trotz des Stollens schon richtig Appetit habe. Rechter Hand sind lange Tafeln eingedeckt, auf denen ein Meer von Weingläsern funkelt. Ein DJ legt dezente Clubmusik auf.
Rings um die schön eingedeckten Tische: Aktbilder in Neonfarben
Erst danach bemerke ich die (eigentlich nicht zu übersehenden) Bilder, die ringsum an den Wänden hängen und in den Fenstern einer historischen Tram hinter der offenen Küche. Sie zeigen erotische Motive in grellen Neonfarben, die dargestellten Körper scheinen zu glänzen, die Bilder selbst wirken von Weitem wie eingeölt oder lackiert.
Das ist also der angekündigte „Kulturbeitrag aus Magdeburg“, der ebenfalls bis zuletzt eine Überraschung geblieben ist. Eine mutige Wahl für ein edles Fünf-Gänge-Menü, denke ich – und bin damit nicht alleine. Aber eine, die aufgeht.
Robin Zöffzig, der seinen Ausstellungen Titel wie „Fackeln im Shitstorm“ gibt, wird auch als Revolutionär bezeichnet, der „die anarchische Seite der sexuellen Befreiung“ darstellt. Seine großformatigen Bilder knallen vor den grob verputzen Wänden, fallen komplett aus dem Rahmen, den das historische Straßenbahndepot setzt, und sind gerade deshalb an genau diesem Ort genial inszeniert.
Als der Künstler zwischen zwei Gängen ans Mikrophon gebeten wird, bringt er die Gäste mit seinem entwaffnenden Humor zum Lachen und liefert sich einen augenzwinkernden Schlagabtausch mit Sommelier Charles Ngangue.
Zu Tisch, bitte! Die kulinarische Reise durch die Altmark beginnt.
In den nächsten zweieinhalb Stunden bespielt uns das Küchenteam des Jagdschloss Letzlingen um Koch Sascha Brandt mit kreativen Interpretationen deutscher Klassiker. Schon der Auftakt ist ein Kracher: Die Küche grüßt mit einem Schokoladenravioli gefüllt mit Rehragout auf Apfel-Walnuss-Chutney.
Es folgt eingelegte Forelle, die, wunderbar intensiv, auf der Zunge schmilzt, kombiniert mit Schwarzwurzel und Vanilleroulade.
Auch der drei-Finger-dicke Schweinebauch, butterzart und zugleich knusprig, auf Gewürzgrünkohl, überzeugt mich. Die einzige Frage, die sich hier stellt: Warum ist mein Messer nicht schärfer?
Das Welsfilet ist auf den Punkt gebraten, das Pürree aus Butternusskürbis und die süßlichen Rote Bete-Happen sind eine gefällige Ergänzung.
Mein Lieblingsgang ist die Hirschroulade der Wildmanufaktur „Waldgourmet“ im hauchzarten, beim Draufbeißen knuspernden Schinkenmantel. Eine sensationelle Kombination! Dazu handverlesene Rosenkohlblätter, die noch ein wenig Biss haben, und Serviettenknödel.
Mit dem Dessert übertrifft sich die Küche dann noch einmal selbst. Tönerne Blumentöpfe werden aufgetragen, auf den ersten Blick gefüllt mit Erde, aus der ein Rosmarinzweig wächst. Nur: Warum liegt eine Praline auf der Blumenerde?!
Das krümelige Braun entpuppt sich als Schokolade, darunter verbirgt sich eine Holunderbeerenmousse. Das Tüpfelchen auf dem i ist jedoch die Praline mit ganz unerwarteter Füllung: eine Rosmarincreme.
Die korrespondierenden Weine zum Menü begeistern sogar die Biertrinkerin
Jeder Gang wird begleitet von einem darauf abgestimmten Wein, den uns Sommelier Charles Ngangue von Riegel Bio Weine mit charmantem französischem Akzent vorstellt.
Obwohl ich ja eigentlich eher Biertrinkerin bin, begeistert mich an diesem Abend jeder einzelne Wein. Mein Favorit ist der wuchtige Côtes du Rhône Blanc, Cuvée Guy Louis AOP 2017, der das perfekte Gegengewicht zum schweren Schweinebauch bildet. Aber auch der einzige Rotwein, Pièce de Roche IGP 2014 zur Hirschroulade ist großartig und der Le G de Guiraud Bordeaux Blanc AOC 2016/17 lässt Erinnerungen an neuseeländische Sauvignon Blancs aufblitzen.
Angenehme Tischgesellschaft: An den langen Tafeln kommt man leicht ins Gespräch
Der Genuss, den ein Essen bereitet, hängt ja auch immer ganz stark davon ab, mit wem man es genießt und in welcher Atmosphäre. Zumindest geht es mir so.
Am frühen Abend, als ich am Bahnhof ankam, musste ich in der Unterführung an einer Gruppe pöbelnder Skinheads vorbei, die glücklicherweise von so vielen Polizisten umringt waren, dass es fast Manndeckung gab. Vermutlich waren sie auf dem Weg zum Fußballspiel, das, wie ich später erfahre, am selben Abend stattfindet. Auch das ist Magdeburg.
Die Stimmung während des Pop Up Dinners könnte nicht gegensätzlicher sein: Ich sitze in einer einmaligen Location mit improvisiertem Charme und unterhalte mich bestens mit meinen Tischnachbarn. Mir gegenüber sitzt der Gründer eines hyperlokalen Food-Startups oder anders gesagt: der Inhaber einer Manufaktur, die Wild aus den Wäldern rund um Magdeburg verarbeitet. Neben mir eine entzückende ältere Dame, die mit mir plaudert, als würden wir uns schon ewig kennen. Und auch zwischen den Gängen, die die Veranstalter so getaktet haben, dass Zeit bleibt, um in der Halle herumzuspazieren und die Bilder Robin Zöffzigs sowie die ausgestellten historischen Fahrzeuge anzuschauen, komme ich hier und da ins Gespräch.
Es wird ein langer, genussvoller und fröhlicher Abend. Nur der DJ bleibt hinter seinen Möglichkeiten zurück: Obwohl er nach dem Dessert die Lautstärke der Musik hochzieht, wippen nur zwei, drei Gäste im Takt. Aber ganz ehrlich: Fünf Gänge sind dann halt doch eine etwas zu gute Grundlage für eine wilde Tanznacht. Als ich gehe, sitzen immer noch einige Gäste mit Sommelier Charles zusammen und unterhalten sich angeregt über die Weine, die vor ihnen stehen.
Magdeburg hat es auf die Shortlist der Kulturhauptstadt 2025 geschafft
Gerade während ich diesen Blogpost schreibe, ist die Entscheidung gefallen, welche fünf deutschen Städte auf die Shortlist für die Kulturhauptstadt 2025 kommen. Magdeburg hat die Jury mit ihrem Konzept „Out of the Void“ überzeugt und muss sich jetzt nur noch gegen Chemnitz, Nürnberg, Hannover und Hildesheim durchsetzen.
Aber ganz gleich, ob Magdeburg letztlich Kulturhauptstadt 2025 wird: Das kulinarische Pop Up-Konzept füllt schon jetzt auf sehr überraschende und inspirierende Weise eine Lücke in der Stadt.
Die Termine der Pop Up 2025-Dinner im kommenden Jahr stehen bereits fest
Überraschungsdinner #5 findet am 7. Februar 2020 statt, #6 am 24. April 2020 und #7 am 13. Juni 2020. Alle drei natürlich in neuen, geheimen Locations. Karten könnt ihr euch bereits jetzt sichern.
+++ Disclaimer: Ich wurde zum Pop Up Dinner im November eingeladen. Dies beeinflusst jedoch nicht meine Berichterstattung. +++
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